Kommentar von Rahime Berisha und Marek Hangler, Revolutionär-Kommunistische Organisation Befreiung (RKO BEFREIUNG), 24. März 2018, www.rkob.net
Die meisten Diktatoren haben es nicht einfach. Sie geraten durch einen Putsch, Bürgerkrieg oder nach starken innenpolitischen Kämpfen an die Macht. Danach muss man ständig dafür sorgen, dass diese Macht nicht wieder entgleitet – normalerweise kein leichtes Unterfangen. Ägyptens Diktatur ist so ein Fall. Sie kam 2013 blutig an die Macht und seitdem jagt eine „Anti-Terror-Kampagne“ nach der anderen durch das Land.
Zahlreiche Aktionen und Stellungnahmen unserer internationalen Tendenz haben gezeigt, dass die Arabische Revolution in diesem Land ihre größten Möglichkeiten entfalten konnte. (1) Genauso wissen Marxistinnen und Marxisten: die (wenn auch begrenzte) Industrialisierung der Halbkolonie Ägypten hat dazu geführt, dass sich heute dort das Herz der Arbeiterklasse Nordafrikas befindet.
Wenn man diese Fakten kennt und durch staatlich geförderte Zeitungen in Österreich blättert, stellt sich uns manchmal die Frage: wissen einige Journalisten überhaupt, was sie da schreiben?! In der Ausgabe der liberalen Tageszeitung „Der Standard“ vom 24. März 2018 findet sich ein Artikel der Journalistin Astrid Frefel, mit dem Titel „Ägypterinnen sind die euphorischsten Sisi-Anhänger“. (2) Dabei taucht beim Lesen des Artikels mehrmals der Gedanke auf, dass im Sinne des Titels wohl Frefel selbst zu einer solchen Ägypterin wurde.
Der erste Eindruck entsteht durch das Bild, dem der Artikel beigefügt ist. Es zeigt eine Wahlkampfveranstaltung des Generals Sisi. Junge Frauen (ganz vorne sogar ohne Kopftuch) rufen und schwenken die Nationalfahne. Sie wirken glücklich. Untertitel des Bildes: Vor allem Frauen setzen erneut auf Sisi, weil er für Sicherheit sorgt und Islamisten bekämpft. In dem Text selbst baut sich das Bild eines befreiten, zivilisierten und aufgeklärten Landes mehr und mehr auf. Sisi hat sechs Frauen als Ministerinnen ernannt, „und zwar auch in wichtigen Ressorts (…) Das hatte es im Land der Pharaonen noch nie gegeben.“ Danach wird über eine UN-Vertreterin berichtet, die Ägyptens Verfassung als eine der „progressivsten Verfassungen in der Region bezüglich Gleichstellung von Mann und Frau“ bezeichnet hat.
Dann werden, natürlich ganz neutral, mehrere weibliche Figuren von Sisi-freundlichen Kampagnen vorgestellt. Als erstes eine Vorsitzende (Name unbekannt), die betont, Ägypten brauche alle nationalen Stimmen, um gegen den Terrorismus zu kämpfen. Der islamkritische Leser horcht auf und denkt, das klingt doch sympathisch! Danach folgen Jihan Sadat - Witwe eines Militärdiktators, Ex-Präsidenten Sadat – und Maya Morsi, Vorsitzende des militärfreundlichen Nationalen Frauenrates. „Mit dieser politischen Führung würden die Frauen in Ägypten die besten aller Zeiten erleben, nachdem unter den Muslimbrüdern alle ihre Rechte bedroht gewesen seien, hält Morsi auf ihrer Website fest.“
Danach wird es Zeit für die abschließende, persönliche Einschätzung. „Die politischen Unruhen nach der Revolution von 2011 hatten Instabilität und einen Anstieg der Verbrechensrate zur Folge, was vor allem bei den Ägypterinnen Angst und das Gefühl von Bedrohung auslöste. Sisi mit seiner Politik der harten Hand hat eine gewisse Stabilität zurückgebracht.“ Der orwellsche Feminismus hat gesprochen! Dem gesamten Aufsatz fehlt das Wort „Diktatur“, oder „Putsch“. Nach dem Lesen des Textes weiß man nicht einmal, dass der Präsident ein General ist. Wird die ägyptische Regierung vom Militär gestellt? Verbietet sie jeden ernsthaften Gegenkandidaten bei den Wahlen? In der realen Welt ist das der Fall – aber die hatte in diesem Artikel zu wenig Platz.
Ein paar Fakten über die Leistungen der Militärdiktatur in den letzten Jahren:
1. Abd al-Fattah Sisi höchstpersönlich hat die sogenannten „Jungfräulichkeitstests“ durch das Militär gutgeheißen. Dabei werden Frauen durch Soldaten oder Polizisten im Intimbereich untersucht, um offiziell festzustellen, ob sie noch Jungfrauen sind. Offiziell will sich dadurch der Staat vor dem Vorwurf „schützen“, jemand hätte während der Festnahme die Frau vergewaltigt. Nebenbei erwähnt, kam es sogar während Sisis Amtseinführung in der feiernden Menge zu mindestens einer Vergewaltigung. (3) In der Nacht als der erste demokratisch gewählte Präsident Morsi gestürzt wurde, erlebten mindestens 80 Frauen sexuelle Misshandlungen oder Vergewaltigungen. (4)
2. Die Frauen in Ägypten fühlten sich vor dem Militärputsch 2013 unsicherer als heute in der Diktatur? In der Folge des Putsches kam es zu grausamen Massenvergewaltigungen auf der Straße. (3) Ein öffentlicher Aufschrei war damals weder von Astrid Frefels noch von ihren Kollegen zu hören, aber jeder weiß über Vergewaltigungen auf dem Tahrir-Platz Bescheid, die man mit der Revolution in Verbindung bringen wollte. Die Wahrheit ist, dass es nie zu einer wesentlichen Verbesserung für die Sicherheit der Frauen gekommen ist. Das ägyptische Volk wollte während der Revolution diese Chance ergreifen. Doch die Revolution war unvollständig und konnte sich nicht entfalten, bevor sie niedergeschlagen wurde. Und davor, danach und zu weiten Teilen sogar währenddessen waren die Chefs eben dieser vergewaltigenden Polizisten an der Macht. Welches Gefühl der Unsicherheit vor dem Putsch ist hier gemeint?
3. Schon während der Revolution in Ägypten wurden demonstrierende Frauen durch das Militär auf eine Weise misshandelt, dass sich der Magen umdreht. Die berühmte junge Frau im blauen BH, die von staatlichen Gangstern durch die Straße geschliffen wird, gehört zu den Beispielen, die geistig noch verkraftbar sind. Grausamer wird es, wenn es um mehr als ein Dutzend festgenommener Frauen geht, die im März 2011 in einem Keller die berüchtigten Jungfräulichkeitstests erlebt haben. (5)
4. Ägyptische Gefängnisse und Polizeistationen sind ein Hotspot für systematische Vergewaltigung. Eine Studie weist auf die reguläre sexuelle Misshandlung an Frauen hin, nachdem sie bei Demonstrationen festgenommen werden. (6) Faktisch jede Polizeistation besitzt einen sogenannten „Kühlschrank“ – ein Raum, der komplett mit Folterwerkzeugen ausgestattet ist, die staatlich zur Verfügung gestellt werden. (7) Offiziell wird das natürlich abgestritten.
Frefel schrieb den Artikel direkt in Kairo. Allein als ehrlicher Demokrat muss man sich fragen, ob sie davor beim Zollamt ihren Verstand abgeben musste. Aber um die Illusion „unabhängiger“ Nachrichten zu wahren erwähnt Frefel im letzten Satz ganz allgemein die fehlende Gleichberechtigung. Dass diese Propaganda-Aktion punkto Weltfremdheit fast schon an die diversen Videos von John Cantlie für Daesh erinnert, kann sie trotzdem nicht verhindern. Möglicherweise hat sie tatsächlich kurz einen Gedanken an die inhaftierten Journalisten von Al-Jazeera verschwendet. Jedenfalls hätte der Text direkt vom ägyptischen Geheimdienst stammen können.
Die meisten Diktatoren haben es nicht einfach. Aber für jeden Diktator wird ein Stück einfacher, wenn ihm aus der westlichen Welt ein Journalist ein demokratisches Feigenblatt reicht.
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(1) Siehe dazu mehrere Stellungnahmen und Artikel:
https://www.rkob.net/wer-wir-sind-1/rkob-aktiv-bei/demo-freies-aegypten-20-04-2014/
https://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/egypt-no-to-military-regime/
https://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/egypt-and-left-army-socialism/
https://www.thecommunists.net/worldwide/africa-and-middle-east/boycott-egypt-referendum/
https://www.rkob.net/wer-wir-sind-1/rkob-aktiv-bei/interview-aswan-tv/
https://www.rkob.net/international/nordafrika-und-arabischer-raum/aegypten-stop-dem-militaerputsch/
(2) https://derstandard.at/2000076711900/Aegypterinnen-sind-die-euphorischsten-Sisi-Anhaenger
(3) Artikel vom 29. Juli 2014: https://www.welt.de/kultur/article130645929/Frauen-sind-Freiwild-im-neuen-Aegypten.html
(4) Artikel vom 05. Juli 2013: https://www.theguardian.com/world/2013/jul/05/egypt-women-rape-sexual-assault-tahrir-square
(5) Artikel vom 21. Dezember 2011: https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Das-aegyptische-Militaer-geht-brutal-gegen-Frauen-vor--168077.html
(6) Studie der International Federation for Human Rights vom Mai 2015: https://www.fidh.org/IMG/pdf/egypt_report.pdf
(7) Artikel vom 25. Januar 2018: http://www.deutschlandfunkkultur.de/staatliche-gewalt-in-aegypten-viel-schlimmer-als-unter.979.de.html?dram:article_id=409084