Von Michael Gatter
Es war der Grausamkeiten zuviel. Am 6. Juni 2010 machte die Nachricht die Runde, daß die indische Armee Ende April 3 junge Männer Schachsad Achmad, Rijas Achmad und Mohammed Schafi hingerichtet hatte, weil sie angeblich als militante Aktivisten aus Pakistan eingesickert wären. Das war eine Lüge, die nicht einmal die Polizei selber glaubt.
Am 11.6. feuerten paramilitärische Einsatzkräfte der zentralen Reservepolizeitruppen aus kürzester Entfernung Tränengas auf DemonstrantInnen und trafen dabei den 17jährigen Tufail Achmad Mattu tödlich am Kopf. Tausende nahmen am folgenden Tag an dem Trauermarsch teil.
Diese Ereignisse entfachten einen Ausbruch des Protestes unter der Bevölkerung des Kaschmir, die in Unterdrückung und Furcht vor der Besatzung der indischen Armee lebt. Mehrtägige Streiks und Massendemonstrationen wurden ausgerufen, zuletzt am 13.7., dem historische Märtyrertag. An diesem Tag waren 1931 21 Muslime aus dem Kaschmir bei einem Aufstand gegen den damaligen hinduistischen Herrscher Maharadscha Hari Singh getötet worden waren.
Zwar spielen laut der Zeitung Asia Times Onlines zwei islamistische Organisationen – Al Badr unter Führung von Bakt Samin Khan und Laschkar-e-Taiba – eine führende Rolle in dem Konflikt. Doch die Intifada ist eindeutig eine spontane Massenerhebung.
Junge Kaschmiris stehen in vorderster Linie in den Straßenkämpfen, werfen mit Steinen nach den Sicherheitskräften, errichten Straßensperren mit brennenden Reifen, um die indische Polizei aufzuhalten. Der Staat antwortet mit tödlichen Schüssen. Viele Tote – im Juni waren es mindestens 15 – und Verwundete sind zu beklagen. Die meisten Zusammenstöße ereignen sich in Srinagar, der Hauptstadt der zu Indien gehörenden Provinzen Jammu und Kaschmir.
Die DemonstrantInnen in Kaschmir rufen Losungen wie „Wir wollen Freiheit“ und „Indien raus“. Auf Spruchbändern ist zu lesen „Verlaßt Kaschmir“, Geh Indien, geh zurück“, „Kein Indien, kein Pakistan, wir wollen ein freies Kaschmir“. Ähnliche Plakate sind auch in der Innenstadt von Srinagar zu sehen.
Einer der Führer der Bewegung, Mirwais Umar Farocq, der an der Spitze von tausenden Demonstranten marschierte, erklärte: „Unsere Proteste und ziviler Ungehorsam werden so lange anhalten, bis Indien seine regulären und paramilitärischen Streitkräfte aus allen bewohnten Gebieten zurück gezogen hat.“
Schon jetzt wird die populäre Erhebung auch in den Medien die Kaschmir-Intifada genannt. Selbst die Vertreter der herrschenden Klasse Indiens müssen den Massencharakter der Erhebung zugeben. In der US-Zeitschrift Christian Science Monitor wird am 13. Juli in einem Artikel der ehemalige Chef der Abteilung Antiterrorismus beim indischen Geheimdienst, B. Raman, mit folgenden Worten zitiert: „Wir sind Zeuge des Beginns einer Intifada in einigen Gegenden von Jammu und Kaschmir.“ Die Gründe dafür formuliert er jedoch mit deutlicher Untertreibung: „Die Ursache liegt in der zunehmenden Wahrnehmung einiger Teile der Jugend, daß die Sicherheitskräfte unsensibel bei der Eindämmung der Erhebung vorgehen und nicht einwandfreie Mittel... sowie unverhältnismäßige Gewalt gegen die Bevölkerung anwenden.“
2008 schrieb Amnesty International in einem offenen Brief an den indischen Premierminister „Grabstätten weisen auf Reste von Opfern ungesetzlicher Morde, zwangsweiser Verschleppungen, Folter und anderer Missbräuche hin, die im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten seit 1989 stehen. Die Gräber von mindestens 940 Personen sind allein in 18 Dörfern des Uri-Bezirks gefunden worden.“
Eine Nichtregierungsorganisation in Kaschmir, das Internationale Volkstribunal zu Menschenrechten und Gerechtigkeit im indisch verwalteten Kaschmir (PTK) sagt aus, daß es in der Zeit der indischen Besetzung des Kaschmir zwischen 1989 und 2009 über 70.000 Todesfälle durch Übergriffe der Besatzungsmacht gegeben habe.
Geschichte nationaler Unterdrückung
Die Intifada kommt nicht von ungefähr. Sie ist nur die jüngste Explosion in der Geschichte der nationalen Unterdrückung des Kaschmir-Volkes. Als Folge des Erbes des britischen Kolonialismus und der reaktionären Teilung des indischen Halbkontinents haben die herrschenden Klassen die Region in Indien (vorwiegend hinduistisch) und Pakistan (vorwiegend moslemisch) aufgeteilt. Dies führte zu reaktionären Kriegen 1947, 1965, 1971 und 1999 sowie zu Dauerspannungen zwischen den beiden Ländern.
Bei zwei der drei indo-pakistanischen Kriege war Kaschmir der Zankapfel. Kaschmir ist eines der übelsten Beispiele für die reaktionäre Teilung Indiens 1947. Die Bevölkerung im Kaschmir ist auf drei Staaten verteilt und erleidet ein ähnliches Schicksal wie das kurdische Volk. Indien besitzt annähernd 43% - den größten Teil von Jammu, Kaschmir-Tal, Ladakh und den Siatschen-Gletscher. Pakistan verfügt über 37% - vornehmlich Asad Kaschmir und die nördlichen Bezirke von Gildschit und Ballistan. China wiederum beherrscht nach dem sino-indischen Krieg 1962 und der Abtrennung des Trans-Krakorum Teils von Pakistan 1963 über 20% des Kaschmir-Gebietes.
3,6 Millionen Kaschmiri leben in Pakistan. Die Mehrheit der Kaschmiri lebt allerdings gegen ihren Willen im indischen Teil von Kaschmir. Damit ist es die einzige mehrheitlich von Moslems bewohnte Provinz in ganz Indien. Im Kaschmir-Tal bildet diese Gruppe 90% der Bevölkerung, in Jammu hingegen sind die 2 Millionen Hindus in der Mehrzahl. Eine kleine buddhistische Minderheit lebt hauptsächlich in Ladakh.
Die Erhebung 1988
Es gibt eine geschichtliche Tradition des Widerstandes der Kaschmir-Bevölkerung gegen die indische Besetzung. Nach einer massiven Wahlfälschung durch die indischen Behörden 1987 verwandelte sich der Widerstand in einen bewaffneten Aufstand. Darin spielten kleinbürgerliche Organisation mit sozialistischer Rhetorik wie die Jammu und Kaschmir Befreiungsfront (JKLF) eine führende Rolle. Der Aufstand wurde jedoch durch die indische Armee brutal niedergeschlagen. Mindestens 30.000 Menschen verloren dabei ihr Leben.
Heute hat der indische Staat, der auch schon seit längerem eng mit der israelischen Armee in Aufstandbekämpfungsübungen zusammenarbeitet, etwa 700.000 Mann starke Kampfverbände und 70.000 Polizisten stationiert. Und das bei einer Einwohnerschaft von insgesamt 8 Millionen! Das sind mehr Besatzungssoldaten als in Afghanistan und Irak – einer für 10 Kaschmir-Bewohner!
Ein besonders trauriges Kapitel des Massenmords und der Unterdrückung ist das Schicksal der so genannten Halbwitwen. Das sind Frauen, deren Männer vermißt werden, die aber offiziell nicht als tot gelten. Sie dürfen sich nicht wieder verheiraten. Auch von Hilfsprogrammen seitens der Nichtregierungsorganisationen sind sie meist ausgeschlossen. Viele von ihnen organisieren sich nun in Verbänden, die sich gegen ihre elenden Lebensbedingungen und gesellschaftliche Aussonderung zusammenschließen.
Die Unterdrückung des Widerstands führte zu einem Niedergang der fortschrittlichen JKLF und dem Aufkommen von islamistischen Terrorgruppen wie Laschkar-e-Taiba-ul-Mudschahedin. In verzerrter Form verkörpern sie zwar das Streben eines Teils der Kaschmiri nach nationaler Selbstbestimmung, zugleich agieren sie aber als Marionetten ihrer Hinterleute, dem pakistanischen Geheimdienst ISI. Ihre Einschleusung aus Pakistan löste 1999 den Kargil-Krieg aus.
In den vergangenen 3 Jahren haben sich jedoch neue Bewegungen und Proteste formiert. Die Kaschmir-Bevölkerung hat die militärische Besatzung, Folter, Ermordungen, Vergewaltigungen, Verschleppungen, Massengräber und erniedrigende Kontrollen satt. Als Resultat wurden 2008 Massenproteste gegen den Landschacher an die Amanath Schrein-Behörde der indischen Regierung organisiert. Ein weiterer Anlaß für Proteste ergab sich nach dem Vergewaltigungsprozeß im Bezirk Schop 2009. Ebenso wurde der indische Premierminister Manmohan Singh bei einem Besuch in Kaschmir im Juni 2010 mit einem Generalstreik ‚begrüßt’.
Solidarität mit der Kaschmir-Intifada !
Die Revolutionär-Kommunistische Organisation zur Befreiung und die „Revolutionäre Sozialistische Bewegung“ (RSM) in Pakistan stehen in vollständiger Solidarität mit dem Aufstand in Kaschmir gegen die Unterdrückung durch den indischen Staatsapparat. Die Bewegung tut völlig recht daran, zu Demonstrationen und zu Generalstreiks aufzurufen.
Aber es gibt einige Fragen, die über Sieg oder Niederlage des Aufstandes entscheiden. Da ist erstens die Frage der politischen Kampfperspektive.
Einige oppositionelle Gruppen sind für Verhandlungen mit der indischen Regierung und lediglich für Autonomie des Kaschmir sowie für ein Eingreifen der ‚internationalen Gemeinschaft’ eingetreten. Die meisten islamistischen bewaffneten Kräfte unterstützen die Lostrennung des Kaschmir von Indien, sind aber für den Anschluß an Pakistan.
Aber es gibt eine lange Tradition und nach wie vor ein großer Massenzuspruch für die ‚Asadi’ (Unabhängigkeit). Viele wollen die Loslösung der Kaschmirregion sowohl von Indien wie auch von Pakistan und die Vereinigung in einem eigenen souveränen Staat.
Die Forderung nach Selbstbestimmung und – wenn frei und demokratisch entschieden – nach Unabhängigkeit ist fortschrittlich, und alle SozialistInnen sollten sie gegen die indischen und pakistanischen Annexionisten unterstützen. Weder ‚religiöse’ noch ‚historische’ Ansprüche eines Landes dürfen diese Wünsche des Kaschmir-Volkes negieren.
Wie können die Massen entscheiden, ob sie in einem unabhängigen Staat leben oder sich Pakistan anschließen wollen? Hierfür fordern SozialistInnen die Wahl einer souveränen Verfassungsgebenden Versammlung, um die Zukunft des Kaschmirs bestimmen zu können. Diese revolutionär-demokratische Forderung könnte den Ausschlag geben für die Vereinigung der Massen zu einem gemeinsamen demokratischen Ziel.
Perspektive
Doch dann würde sofort die Frage entstehen, welche Gestalt ein unabhängiges Kaschmir annehmen soll. Wird eine neue Kapitalisten- und Grundbesitzerklasse herrschen und die Massen unterdrücken oder eine freie Republik der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen entstehen? SozialistInnen treten natürlich für die zweite Perspektive ein. Eine solche ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen-Republik Kaschmir wäre allerdings – würde sie isoliert bleiben – nicht von langem Bestand.
Für SozialistInnen in Kaschmir ist es elementar, Schulter an Schulter mit ihren Klassengeschwistern in Indien und Pakistan zu kämpfen. Für indische und pakistanische SozialistInnen ist die Verteidigung des Rechts auf Abtrennung von ihren Staaten, falls so gewünscht, die Grundlage des Internationalismus. Ein freies Kaschmir muß sich gegen die überlegenen Truppen des indischen und pakistanischen Staates wehren und die Isolation und wirtschaftliche Unterentwicklung verhindern. Das Ziel muß sein, die sozialistische Revolution permanent zu machen, den Kampf der Massen nach Indien und Pakistan hinein zu tragen. Eine sozialistische Staatengemeinschaft auf dem ganzen indischen Halbkontinent muß angestrebt werden.
Eine wichtige Lehre der palästinensischen Intifada ist, daß die Massen sich in Räten, in Aktionskomitees, in Städten und Dörfern organisieren und über die Perspektive des Kampfes entscheiden. Nur so können sie vermeiden, von kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Kräften, denen es an einer sozialistischen Zielsetzung mangelt, in die Niederlage geführt zu werden.
Partei
Das dringende Gebot der Stunde ist der Aufbau einer revolutionären ArbeiterInnenpartei als Teil der Fünften Internationale. Eine solche Partei wird die klassenbewußtesten ArbeiterInnen und Jugendlichen zusammenführen und für die brennenden sozialen und demokratischen Forderungen kämpfen. Sie wird auch versuchen, der Bewegung eine Perspektive der Massenaktion, eines unbefristeten Generalstreiks und des bewaffneten Aufstands zu geben. Die revolutionäre Partei wird die NationalchauvinistInnen, politischen IslamistInnen und hinduistischen ChauvinistInnen bekämpfen sowie alle Tendenzen, die die internationale Unterstützung und die Ausbreitung des Kampfes auf die indischen und pakistanischen Massen untergraben wollen. Für diese Perspektive setzen sich die Revolutionär-Kommunistische Organisation zur Befreiung und die Revolutionäre Sozialistische Bewegung ein:
* Für den sofortigen und völligen Rückzug aller indischen und pakistanischen Kräfte aus dem Kaschmir!
* Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung des Kaschmir-Volkes einschließlich des Rechts auf Bildung eines unabhängigen Staates!
* Für die Wahl einer souveränen Verfassungsgebenden Versammlung, die über die Zukunft des Kaschmir entscheidet!
* Für die Freilassung aller politischen Gefangenen des Freiheitskampfes im Kaschmir!
* Für das Recht aller von indischen oder pakistanischen Sicherheitstruppen vertriebenen Kaschmiri auf Rückkehr in ihre Heimat!
* Für ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen-Republiken in Indien, Pakistan und Kaschmir!
* Für eine sozialistische Föderation von Südasien!