In den beiden ersten Kapiteln über die Geschichte der Roma-Unterdrückung haben wir die historischen Ursachen ihrer Unterdrückung herausgearbeitet und ihre fortgesetzte Diskriminierung – aber auch die sozialen Verbesserungen – in den stalinistischen Planwirtschaften nachgezeichnet. In diesem Kapitel wollen wir die aktuelle Lage der Roma in Osteuropa und insbesondere in der Slowakei darstellen.
Die Wiedereinführung des Kapitalismus in Osteuropa hatte für die Roma katastrophale Folgen. (12) Ihre Diskriminierung unter dem Stalinismus im wirtschaftlichen Bereich - Beschränkung auf wenig qualifizierte und schlecht bezahlte Berufe, niedriges Ausbildungsniveau - wurde den Roma nun zum Verhängnis. Die Schließung vieler landwirtschaftlicher Genossenschaften wie auch Industriebetriebe traf die Roma in besonderem Ausmaß.
Schlagartig explodierte die Arbeitslosigkeit der Roma: In der Slowakei sind über 80% der Roma - in manchen Regionen wie z.B. Kosice gar 100% (13) - ohne offizielle Beschäftigung und müssen sich mit Schwarzarbeit und Sozialhilfe über Wasser halten. Auch in Ungarn - dem angeblichen Vorzeigeland des neuen Kapitalismus in Osteuropa - sind Schätzungen zufolge 60-80% der Roma arbeitslos. In der Tschechischen Republik finden laut Europäischer Union 70-90% der Roma keinen Job. Es ist wohl kaum übertrieben zu sagen, daß der wiedereingeführte Kapitalismus die nach 1948 entstandene Roma-ArbeiterInnenklasse weitgehend vernichtete bzw. in höchst prekäre Verhältnisse abdrängte.
Die Auswirkungen sind dramatisch: Laut einer Weltbankstudie liegt der Anteil der unter der offiziellen Armutsgrenze lebenden Personen unter den Roma 4-5 mal so hoch wie in der restlichen Bevölkerung. (14) In der Slowakei sterben männliche Roma bereits mit 55 Jahren, weibliche Roma mit 59 Jahren. Dies bedeutet, daß sie 12 bzw. 15 Jahre früher als die Mehrheitsbevölkerung sterben! (15)
Für die neue herrschende Klasse hat dies eine durchaus angenehme Folge. Die Slowakei gilt mit knapp 20% Arbeitslosenrate als das ärmste Land Ostmitteleuropas. Die Bourgeoisie konnte die damit unvermeidlichen sozialen Spannungen durch den „Roma-Faktor“ mindern, denn die Roma wagen sich aus Angst, Existenzunsicherheit und offener Ablehnung durch die Gesellschaft kaum zu wehren. Aufgrund verschiedener Statistiken und Schätzungen von Wirtschaftswissenschaftern können wir davon ausgehen, daß ca. 30-45% aller Arbeitslosen in der Slowakei Roma sind. Ein anderes Beispiel: Laut einer Weltbankstudie stellen die Roma in Bulgarien 8.8% der Bevölkerung, jedoch 31.6% aller unter der Armutsgrenze Lebenden. (16) Mit einem Wort, die rassistische Unterdrückung der Roma wird von der herrschenden Klasse dazu benützt, daß die zunehmenden gesellschaftlichen Gegensätze nicht in offene Klassenkämpfe münden. (17)
Diese rapide Verarmung durch die Folgen der kapitalistischen Restauration schlägt sich natürlich auch in den Lebens- und Ausbildungsbedingungen der Roma nieder. Die meisten Roma leben ghettoisiert in Dörfern sowie in Siedlungen am Rande von Städten. (18) Die sanitären und hygienischen Bedingungen sind katastrophal, oft fehlen Zugang zu Heizung und Gas. Die Großfamilien sind oft gezwungen, auf engstem Raume in ein, zwei Zimmern zusammenzuleben, was wiederum die Ausbreitung von Krankheiten erleichtert.
Einer der ganz wenigen Fortschritte für die Roma nach der Wende 1989 besteht darin, daß ihre Sprache und Literatur nunmehr anerkannt wird. Vor der Wende gab es faktisch keine Literatur in der Sprache der Roma – Romanes. Seitdem wurden in der Slowakei einige hundert Buchtitel veröffentlicht. An der Universität in Prag können beispielsweise Kurse in Romanes belegt werden.
Doch diese kleinen Fortschritte gehen einher mit einer umso massiveren Diskriminierung der Masse der Roma im Ausbildungssektor. Schätzungen zufolge machen Roma zwar ein Viertel aller Kinder in der Slowakei aus, doch werden sie enorm benachteiligt. (19) Bis zum sechsten Lebensjahr sprechen die meisten von ihnen nur Romanes. Aufgrund ihrer Armut und der Feindschaft seitens der slowakischen Behörden können viele Familien ihre Kindern nicht in Kindergärten schicken. In der Schule wird weiterhin nicht in Romanes unterrichtet und die meisten Roma-Kinder werden dadurch in ihrer Entwicklung massiv behindert. Hinzu kommt oft noch die unverhohlene Ablehnung durch die LehrerInnen und auch durch „weiße“ Kinder. Kein Wunder, daß ihr schulischer Erfolg weit hinter dem ihrer „weißen“ AltersgenossInnen liegt und viele in sogenannten „Sonderschulen“ – Schulen für geistig Behinderte – landen.
In der Tschechischen Republik machen die Roma zwar nur ca. 3% der Gesamtbevölkerung aus, stellen jedoch 70-75% der Kinder, die eine „Sonderschule“ besuchen. (20)
Eine Untersuchung an 85 Schulen in Ungarn, in denen mehr als 10% der Kinder Roma sind, ergab, daß in mehr der Hälfte dieser Schulen Roma sogenannte „private SchülerInnen“ sind – also SchülerInnen, die zwar offiziell in der Schule eingeschrieben sind, diese jedoch nicht aktiv besuchen.
Und auch in den „normalen“ Schulen werden Roma meist abgeschoben und isoliert. So existieren in den Schulen Ungarns sogenannte C-Klassen, das sind Schulklassen für „sozial zurückgebliebene“ Kinder. (21) 1997 existierten solche C-Klassen in 132 von 840 untersuchten Schulen und diese setzen sich hauptsächlich aus Roma zusammen.
Schließlich sei noch auf die tiefgreifende Segregation (Trennung) der Roma hingewiesen, selbst in jenen Gebieten, wo sie mit Nicht-Roma zusammenleben und einen relevanten Bevölkerungsanteil ausmachen. Eine Studie weist darauf hin, daß in Rumänien in solchen „gemischten“ Gebieten der Großteil der Roma eine Schule und die „Weißen“ eine andere, nahegelegene Schule besuchen. (22) In Bulgarien gehen 70% aller Roma-Kinder in Nur-Roma-Schulen.
Aufgrund ihrer Armut können sich Roma oft auch keine Schulbücher leisten. In Mazedonien beispielsweise, wo viele Roma ausschließlich von Sozialhilfe leben, würden die im Schuljahr benötigten Bücher ca. das Äquivalent eines Monatseinkommens ausmachen. (23)
Diese rassistische Diskriminierung im Ausbildungssektor führt auch zu einem katastrophalen Bildungsverfall der Roma. Während in Bulgarien beispielsweise 36.5% der Nicht-Roma-Bevölkerung über einen Matura-Abschluss verfügen, liegt der Anteil bei den Roma bei bloß 4.9%. Und während 8.9% der Nicht-Roma ein Universitätsdiplom besitzen, können das nur 0.1% der Roma von sich behaupten! Die bereits hohe AnalphabetInnenrate unter den Roma stieg noch weiter an. In Bulgarien wuchs die Zahl der Roma-AnalphabetInnen von 28.897 (1991) auf 46.406 (2001) an. (24) Und in Rumänien liegt die AnalphabetInnenrate bei 27.3%! (25)
Die rassistische Unterdrückung der Roma schlägt sich schließlich auch in einer Welle der Gewalt und Überfälle gegen sie nieder. Besonders in den letzten Jahren nahmen in der Slowakei, der Tschechischen Republik, Rumänien und anderen Ländern die Gewalt von Skinhead-Banden gegen Roma zu. So wurden z.B. in der Tschechischen Republik in den 1990er-Jahren 20 Roma durch Skinheads ermordet. (26) Genau gegen einen solchen Angriff hat sich der junge Antifaschist und Roma Mario Bango erfolgreich zur Wehr gesetzt. Und genau deswegen, weil sein Widerstand ein Fanal für andere Roma sein soll, sind wir aktiver Teil der internationalen Solidaritätskampagne für ihn und fordern seine Freilassung.
Schließlich spiegelt sich die rassistische Unterdrückung der Roma auch in ihrem weitgehenden Ausschluss aus dem offiziellen politischen Leben wider. Eigene Roma-Parteien erlangen bei den Parlamentswahlen fast nie mehr als 1% und auf den Listen anderer Parteien finden sich kaum Roma an wählbarer Stelle. Die einzige Ausnahme, wo Roma-Parteien der Sprung ins Parlament gelang, stellt Mazedonien dar. Im Jahre 1990 errangen zwei Abgeordnete der Partei für die umfassende Emanzipation der Roma in Mazedonien (PCER) Parlamentssitze. Später war auch noch die Union der Roma in Mazedonien mit einem Abgeordneten vertreten. Insgesamt jedoch sind die Roma kaum in den Parlamenten Osteuropas repräsentiert. (27) Dafür – und dies zeigt symbolisch den offiziellen Rassismus in den staatlichen Strukturen – sind dort Parteien wie die rassistische Slowakische Nationalpartei (SNS) vertreten, deren RepräsentantInnen die Roma als „Idioten“ bezeichnen, die „in Reservate“ gesteckt gehören! (28)
Man kann daher zusammenfassend ohne Übertreibung sagen, daß die Roma die ersten Opfer der kapitalistischen Restauration geworden sind. Sie sind die Paria des 21. Jahrhunderts in Osteuropa. Kein Wunder, daß viele Roma diesen Bedingungen entfliehen wollen und um Asyl im Westen ansuchen. Doch die imperialistischen Regierungen der EU – die ansonsten Krokodilstränen über das Schicksal der Roma vergießen – gewähren den Roma in der Regel kein Asyl. Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf den heuchlerischen Humanismus des Westens, der in seinem Kern genauso rassistisch ist wie die kapitalistischen Staaten Osteuropas. Vielmehr ist die EU in ihren offiziellen Erklärungen deswegen so besorgt über das Schicksal der Roma im Osten, ... weil sie verhindern möchte, daß die Roma in die EU kommen!